Ein erster Startpunkt auf der Suche nach dem Uhrzeit-Ochsen führt mich zunächst in die nahe gelegene Touristeninfo, wo ich mir genauere Informationen über den Standpunkt der Tiere erhoffe. Miit einem Gebeitsdurchmesser von ca. 30 km Gebirgstundra in denen sich die Tiere aufhalten können, ist jeder Anhaltspunkt für eine erfolgreiche Suche nützlich. Die Auskunft der freundlichen Dame im Informationszentrum fällt dafür eher ernüchternd aus mit der Botschaft: "Die Tiere aufzuspüren ist beinahe unmöglich, außer man bucht eine der geführten Moschusochsen-Safaris". "Soll ich Ihnen Informationen zu den Anbietern geben?" fragt mich die junge, motivierte Norwegerin noch im gleichen Athemzug und hällt mir auch schon einen Stapel Infoflyer über den Tisch. Mit "Meet the Beast" (begegnen sie der Bestie) preist der oberste Flyer den ultimativen Nervenkitzel an. Ich lehne dankend ab, schließlich will ich die Moschusochsen in Ruhe in ihrer natürlichen Umgebung beobachten können, weshalb ich zwei Tage mit dem Zelt durch das Gebiet wandern will. Für einen halben Tag in einer Menschentraube zum erstbesten Moschusochsen zu hechten, den ein Guide zuvor mit allen Mitteln der Technik ausgespäht hat, um dann aus reichlich Entfernung einen kurzen Blick auf das Tier zu haben und anschließend wieder zurück zu gehen, dafür hatten mich die Moschusochsen zu sehr in ihren Bann gezogen. Ich wollte die Tiere nicht nur sehen, sondern erleben.
Mit einer ordentlichen Wanderkarte über den Park, aber ohne Safari-Ticket verlasse ich den Infopoint und am nächsten Tag geht es in altvertrauter Wandermontur zeitig auf den Weg durch den Nationalpark. Selbst das Rucksackgewicht ist altvertraut und gleicht der autargen Woche in Lappland. Zwar hällt sich der Proviant bei 2 Tagen in Grenzen, doch diesmal ist das Teleobjektiv dabei - schließlich möchte ich mich rein auf die Moschusochsen konzentrieren, auch wenn dies bedeutet das Weitwinkel für die Landschaftsbilder zurück lassen zu müssen.
Entgegen den geschäftsorientierten Prophezeihungen der Touristeninfo stehe ich bereits am Mittag meinem ersten leibhaftigen Moschusochsen gegenüber. Ok, "gegenüber" ist noch etwas optimistisch formuliert, ich beobachte meine erste leibhaftige Moschusochsenherde aus einiger Entfernung. Doch Schritt für Schritt geht es näher an die Herde heran, bis auch erste Bilder möglich sind. Wie erwartet habe ich die Tiere erst in den höheren Lagen im Gebirge angetroffen, wo sie gemächlich den Hang entlangziehen und dort grasen.
Mit einem der Moschusochsen habe ich eine besondere Begegnung. Der Pfad auf dem ich unterwegs bin läuft entlang einem Tal in welches er mich entlang der Bergflanke führt. Von der erhöhten Position ist die Sicht weit und der Blick kann ungehindert über das ausgedehnte Fjell schweifen, in welchem sich ein Fluss durch die Tundra schlängelt. Ein kleiner braun-schwarzer Punkt ist dort zu erkennen und der bewegt sich zielstrebig auf den Fluss zu. Ein Moschusochse! Die Entscheidung ist schnell gefallen und schon bin ich auf dem Weg durch Hüft-hohe Sträucher um nach unten an den Fluss zu gelangen. In ausreichender Entfernung schultere ich die Kamera, lasse den Rucksack in den Büschen zurück und pirsche mich an den Ochsen heran. Der ist gerade damit beschäftigt aus dem Fluss zu trinken und sich an den Blättern umliegender Sträucher satt zu essen, was mir die Möglichkeit gibt relativ lange unbemerkt zu bleiben. Der empfohlene Sicherheitsabstand von 200 Metern ist schon lange unterschritten, doch mein Standpunkt auf der anderen Flusseite gibt eine gewisse Sicherheit. Nun erkenne ich deutlich alle Details des stattlichen Bullen. Sein langes, zotteliges Fell das ihm bis zu den Knien herab hängt und ihm im Nacken wie eine Mähne empor steht. Seine bedrohlich aussehende Hornplatte, die eine bewährte Waffe bei Revierkämpfen mit Artgenossen ist. Die beiden seitlich abstehenden Hörner die ihm bei der Abwehr von Eisbär oder Polarwolf helfen. Und nun beobachten mich auch die beiden kleinen, knopfartigen Augen. Sein Blick ist tief und intensiv und die Zeit in der wir uns ansehen erscheint wie eine Ewigkeit in der alles um mich herum ausgeblendet ist. Der Überlebende der letzten Eiszeit mustert mich, scheint mich fragen zu wollen "wer bist Du und was machst Du hier". Eine Antwort auf diese Frage des Lebens kann ich ihm noch nicht geben, kann nur staunen über die Wunder dieser Erde, zu denen auch er gehört. Stolz hebt er seinen Kopf, dreht sich langsam um und verschwindet wieder in den Büschen.